Am 8.Februar 2005 referierte die Ergotherapeutin Frau Cathrin Trauernicht zum Thema „Wahrnehmung - Sehen bei Kindern aus ergotherapeutischer Perspektive“ im Augenoptikfachgeschäft Friedemann Bruske.
Auf informative und anschauliche Weise machte die engagierte Ergotherapeutin deutlich, dass sich visuelle Wahrnehmungsfähigkeit nicht auf das „reine Sehen“ beschränken lässt. Vielmehr müssen visuelle Reize so verarbeitet werden können, dass das Kind dazu in der Lage ist, sie zu erkennen, zu unterscheiden und in Verbindung mit früheren Erfahrungen zu deuten. Insofern ist Sehen aus ergotherapeutischer Perspektive ein sehr komplexer Vorgang, der fünf wesentliche Fähigkeiten beinhaltet:
1. Die visuo-motorische Koordination -> das Sehen wird mit der Bewegung des Körpers verbunden (z.B. eine gerade Linie über ein Blatt ziehen und die Handbewegung mit den Augen verfolgen).
2. Die Figur-Grund-Unterscheidung -> aus einer Vielzahl das auswählen, auf das die Aufmerksamkeit gerichtet werden soll (Grundvoraussetzung zum Lesen; aus dem „Buchstabensalat“ die einzelnen Wörter herauskristallisieren zu können).
3. Wahrnehmungskonstanz -> Gegenstände anhand von wesentlichen Merkmalen in Lage, Farbe, Form wiedererkennen können (wie z. B. den Griff einer Tasse).
4. Erkennen der Lage im Raum -> gleiche Lage von zwei Gegenständen herausfiltern.
5. Erfassen räumlicher Beziehungen -> komplexe räumliche Beziehungen erkennen (die Tasse steht auf dem Tisch, der Stuhl steht davor, unter ihm schläft die Katze).
Cathrin Trauernicht betonte, dass die visuelle Wahrnehmungsfähigkeit für die Lernfähigkeit eines Kindes von großer Bedeutung sei. Anhand konkreter Beispiele aus ihrer Berufspraxis veranschaulichte sie, in welcher Weise sie diagnostisch vorgeht, wenn sie Grund zur Annahme hat, dass das Kind auf diesem Gebiet Defizite vorweist und Hilfe benötigt. Oftmals beginnt sie mit der scheinbar banalen Frage, ob eine Brille vorhanden sei und ob diese auch tatsächlich getragen werde.
Ob tatsächlich darüber hinaus visuelle Wahrnehmungsdefizite vorliegen, ermittelt die sachkundige Ergotherapeutin u.a. mit umfangreichem Testmaterial, das sie den interessierten Vortragsbesuchern konkret vorstellte. Die Ergebnisse waren oft erstaunlich und initiierten unter den Zuhörern ein angeregtes Gespräch über eigene Erfahrungen. So berichtete beispielsweise eine engagierte Erzieherin von interessanten Beobachtungen aus ihrer Berufspraxis. Sie machte allerdings auch deutlich, dass Hinweise auf visuelle Defizite leider erst häufig mit Beginn des Schuleintritts ernst genommen werden würden.
Frau Trauernicht beschrieb im folgenden sehr plastisch, wie sie mit Kindern arbeitet, die unter visuellen Wahrnehmungsstörungen leiden. Allen Teilnehmern wurde durch die lebendige und authentische Art der erfahrenen Ergotherapeutin klar, dass hierbei das Prinzip der Ermutigung eine wichtige Rolle spielt. Die Kinder gewinnen auf spielerische Weise ohne schulischen Druck oder Drill wieder Zutrauen zu sich selbst und ihren Fähigkeiten. So malt das Kind beispielsweise mit einem imaginären Nasenpinsel ein zu übendes Wort an die Decke und trainiert so - ohne das dies bewusst wahrgenommen wird - die Kopf- und Rumpfmuskulatur; beide müssen in Koordination einen guten Tonus haben. Ermutigungsarbeit bezieht sich im übrigen auch auf die oftmals verzweifelten Eltern, die nach Trauernicht häufig nichts so sehr bräuchten wie ein mutmachendes Wort und konkrete positive Unterstützung.
Abschließend betonte Trauernicht, wie wichtig es sei, dass auch die Berufsgruppen, die sich mit diesem Problemfeld im näheren oder weiteren Sinn beschäftigen, miteinander zu einem Dialog finden, der dann den Betroffenen wirklich effektiv helfen könne. Habe Trauernicht beispielsweise den Eindruck, es könne bei dem Kind eine Winkelfehlsichtigkeit vorliegen ( = verdecktes Schielen), so würde sie eine Untersuchung bei einem kundigen Augenoptiker empfehlen.
Der anregende Abend endete mit einem freundlichen Applaus für die fachkundige Referentin und dem Dank von Friedemann Bruske für den ausgesprochen informativen Vortrag in der angenehm lockeren Atmosphäre, zu der die Offenheit und Gesprächsbereitschaft der Teilnehmenden auf wohltuende Weise beigetragen hatte.
Zum Schluss lud der Augenoptikermeister die Zuhörer zum nächsten Vortrag am 3.Mai 2005 ein und bekräftigte damit seine Hoffnung, durch diese spannenden „Blicke über den Tellerrand“ dem umfassenden und ganzheitlichen Thema Sehen besser gerecht werden zu können